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Interview: Christian Bärmann (bär) | Fotos: Regine Mosimann/Diogenes Verlag

Interview mit Donna Leon: Das Venedig des Commissario Brunetti

„Ich liebe die Stadt für ihre Schönheit“

Am liebsten würde sie mit einem U-Boot durch die Kanäle Venedigs fahren und die Kreuzfahrtschiffe bombardieren, gab Donna Leon schon vor Jahren in einem Interview preis. Die Autorin der „Brunetti“-Krimis liebt „ihre“ Stadt und verzweifelt an den Entscheidungen der sorglosen Stadtväter. Zum Glück gibt es ja noch das „wahre“ Venedig.

Mrs. Leon, Sie leben mittlerweile seit dreißig Jahren in Venedig. Was finden Sie in der Lagunenstadt, das andere Städte Ihnen nicht bieten können?

Venedig ist schön, wohin man auch schaut. Die Stadt ist für gewöhnlich auch sehr leise, zumindest ohne mechanische Geräusche. Außerdem gehen die Menschen hier zu Fuß und tref- fen sich dadurch oft und pflegen so den menschlichen Umgang.

Dennoch beklagen Sie häufig, dass sich die Stadt nur noch um die Bedürfnisse der Touristen kümmert und dabei die Einheimischen vernachlässigt. Verbindet Sie mit Venedig eine Art Hassliebe?

Nein, mein Unmut betrifft nur die Personen, die die Entscheidungen für die Stadt treffen – von denen die meisten für den Massentourismus ausfallen und zumeist auf Kosten der Bürger. Zum Beispiel gibt es mittlerweile ganz viele dieser hölzernen Stände, die nur zeitweise aufgestellt werden, an denen jede Menge hässlicher Touristenschrott verkauft wird. Das haben die Bürger nicht zu verantworten, sondern diejenigen, die die Erlaubnis dafür gegeben haben. Und was der Stadt wirklich schadet, sind die Kreuzfahrtschiffe. Aber nochmals: Es sind nicht die Einwohner gewesen, die diesen Schiffen die Zufahrt in den Canale della Guidecca gewährt haben. Man kann die Stadt nur für ihren Frieden und ihre Schönheit lieben – Politiker gehören leider in eine komplett andere Kategorie.

Allerdings dürften auch Ihre Romane dazu geführt haben, dass immer mehr Menschen nach Venedig kommen, um auf Commissario Brunettis Spuren zu wandeln. Ist das ein Problem für Sie?

Nein, nicht wirklich. Mir ist es lieber, sie kommen nach Venedig, weil sie neugierig sind, einen Ort aus den Büchern zu sehen anstatt hier einkaufen zu wollen.

In einem Interview haben Sie mal gesagt, dass Sie an die Möglichkeit glauben, dass Venedig eines Tages in die Hände von Menschen wie Brunetti übergeht. Wie haben Sie das gemeint?

Hmm, ich kann mich gar nicht daran erinnern, das gesagt zu haben. Denn ich glaube nicht, dass die Stadt jemals wieder in die Hände von Menschen wie Brunetti übergeht, die Venedig als ihr Zuhause sowie einen liebenswerten Ort und nicht als eine Gelegenheit sehen, Profit daraus zu ziehen.

Viele Einheimische von Städten, die Touristen anziehen, sagen, dass es auch ein „wahres“ New York, Paris oder London gebe. Ist das Venedig von Brunetti das „wahre“ Venedig?

Ich habe keine Ahnung. Es ist das Venedig, das ich betrachte, durch das ich seit vierzig Jahren laufe und in dem ich seit mehr als dreißig Jahren lebe. Es ist die Stadt, die ich jeden Tag sehe, der Ort, an dem die meisten Geschichten, die mir beim Klatsch erzählt wurden, stattfinden. Für mich ist es das wahre Venedig.

Man kann eine Stadt am besten mit einem Einheimischen an seiner Seite entdecken. Da diese Erfahrung den meisten Besuchern vorenthalten bleibt: Ist das Buch „Brunettis Venedig“ von Toni Sepeda zumindest ein Ersatz, da es die Stadt aus Sicht des Commissarios zeigt?

Ja, ich glaube, dass Toni Sepedas Buch ein guter Reiseführer für die Stadt ist. Sie lebt hier seit Jahrzehnten, ist Professorin für Literatur und Kunstgeschichte und kann daher sowohl über die Beschaffenheit der Stadt als auch die Bücher, die Brunetti liest, viel erzählen. Und sie schreibt gut.

Was würden Sie Besuchern empfehlen, die das „wahre“ Venedig abseits von San Marco entdecken wollen?

Ich würde ihnen empfehlen, von ihrem Hotel oder ihrer Unterkunft aus ohne Karte in eine Richtung zu laufen, in die sie noch nie gegangen sind. Ich hoffe, sie verlaufen sich für ca. eine Stunde, trinken in einer Bar, die mit Einheimischen gefüllt ist, einen Prosecco, und finden sich dann – ohne Vorbereitung oder Warnung – an einer Stelle wieder, die sie wiedererkennen.

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