DIE ERBEN TOLKIENS
Fantasy-Hörbücher
Schon bei der Auswahl der Hörbücher, die in diesem Spezial vorgestellt werden sollten, wurde uns klar, dass es nicht einfach ist, das Genre „Fantasy“ einzugrenzen. Selbst ein Subgenre der Phantastik, ist die Fantasy mittlerweile genauso konventionalisiert und ausdifferenziert wie etwa der Krimi oder der Liebesroman. Die Autoren von High-Fantasy erschaffen in direkter Nachfolge des großen J. R. R. Tolkien komplexe, in sich geschlossene Welten, die schon bei ihrer Entstehung auf eine lange, komplizierte Geschichte zurückblicken.
Bernhard Hennens „Elfen“-Zyklus ist ein Beispiel für moderne High-Fantasy. Die Romane der so genannten Low-Fantasy kreisen um einen einsamen, oft übermenschlich starken Helden, der mit List und Tapferkeit gewöhnliche und magische Widersacher besiegt und dabei meist noch ziemlich lässig wirkt. Der Prototyp eines solchen Helden ist Conan, der Barbar, der sich durch mehr als siebzehn Heftchenromane, zwei Filme und diverse Comics metzelte. Eine dunklere und vielschichtigere Variante des einsamen Helden ist Drizzt Do‘Urden, der Dunkelelf, in dieser Ausgabe vertreten in der Hörspielfassung von R. A. Salvatores Saga aus dem Hause Lausch. Mit satirischen Werken wie Terry Pratchetts „Scheibenwelt“-Romanen beginnt die Fantasy schließlich, über sich selbst nachzudenken, und parodiert zugleich fragwürdige Phänomene unserer Welt. Wie jede Art von Literatur berührt die Fantasy andere Genres, vermischt sich mit ihnen und bedient sich ihrer Motive. So grenzt H. P. Lovecrafts „Cthulhu-Mythos“ an Horror, in „Star Wars“ mischen sich Fantasy-Elemente mit Science-Fiction, und J. K. Rowlings „Harry Potter“-Reihe erzählt eigentlich eine Internatsgeschichte.
Fantasy-Autoren lassen eine starke Tendenz zu großer Ausführlichkeit und einen Hang zur seriellen Produktion erkennen. Warum lassen sich Leser auf diese umfangreichen Werke ein und erwarten mit Widerwillen die letzte Seite? Warum fiebern sie mit glänzenden Augen dem nächsten Band entgegen? Mit dieser Frage hat sich schon Tolkien beschäftigt. In seinem Essay „On Fairy Stories“ (1937) nennt er vier Funktionen der Fantasy: Als Voraussetzung für den Genuss fantastischer Literatur macht er die Bereitschaft aus, den eigenen Unglauben für die Dauer der Lektüre außer Kraft zu setzen, die Welt, die der Autor erschaffen hat und die unseren Alltagserfahrungen widerspricht, als real zu akzeptieren. Die erste Funktion der Fantasy ist demnach die Anregung der Vorstellungskraft. Gleichzeitig ermöglicht uns die Verfremdung, die unsere Welt durch die Übersetzung ins Fantastische erfährt, einen klaren Blick auf unsere eigene Realität wiederzuerlangen, weil sie sie uns aus einer neuen Perspektive zeigt.
Ein Vorwurf, mit dem sich Fantasy-Autoren und -Leser seit jeher auseinandersetzen mussten, ist der des Eskapismus. Der Leser, frustriert von seinem überkomplexen und banalen Alltag, identifiziert sich mit einer Figur, die edler, stärker und klüger ist als er selbst, und flieht in eine Welt, in der sich echte Probleme auf archaische Art und Weise lösen lassen. Er sucht lieber nach magischen Artefakten als nach seinem verlorenen Portemonnaie. Er versteckt sich lieber vor Nazgûls als vor der GEZ. Anders als das absolute Böse tut die Dame von der GEZ ja nur ihre Pflicht, und ihr hinter der Tür mit dem Morgenstern aufzulauern, wäre kaum die angemessene Reaktion. Tolkien nennt Eskapismus als zentralen Zweck der Fantasy, unterscheidet aber zwischen der Flucht des Feiglings und der des Gefangenen. Letztere sieht er als legitimen Widerstand an. „Warum“, fragt er, „sollte ein Mensch, der sich im Gefängnis wiederfindet, nicht versuchen zu entkommen?“
Die vierte Funktion der Fantasy nach Tolkien ist schließlich der Trost, den ein glücklicher Ausgang einer gefahrvollen Geschichte bietet. Fantasy auf Realitätsflucht oder Wunscherfüllung zu reduzieren, würde dem Genre allerdings nicht gerecht. Unter ihrer Oberfläche aus wundersamen Wesen und epochalen Schlachten kann Fantasy gesellschaftliche Probleme kommentieren, politische Utopien erproben und neue Mythen erschaffen.
Während sich Fantasy-Fans in den 80er Jahren noch als Außenseiter fühlen mussten – zum Klischee gehörten lange Haare, unreine Haut, Über- oder Untergewicht und eventuell ein „Manowar“-T-Shirt – erlebte das Genre in den späten Neunzigern durch die „Harry Potter“-Romane und Peter Jacksons monumentale Verfilmung des „Herrn der Ringe“ einen Boom, der sich auch auf außerliterarische Phänomene erstreckt. Über elf Millionen Spieler wandern, kämpfen und sterben allein auf den vier virtuellen Kontinenten des Online-Rollenspiels „World of Warcraft“. Die Entwicklung der Fantasy-Literatur ist eng verschränkt mit der fantastischer Pen&Paper-Rollenspiele wie „Das schwarze Auge“, „Shadowrun“ oder „Call of Cthulhu“. Markus Heitz etwa hat neben der „Zwerge“- und der „Ulldart“-Reihe sieben „Shadowrun“-Romane verfasst.
Fantasy-Leser und Rollenspieler suchen im Grunde dasselbe: eine Existenz in einer fiktiven Welt, die manchmal realer, aber immer farbiger und intensiver ist als unsere Alltagsrealität. Und eine Welt, die sie staunen lässt.