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Interview: Emily Walton | Fotos: Eric Sultan

Zeruya Shalev

Liebe kann so viele Gesichter haben

Zeruya Shalev gilt als Meisterin der großen Emotionen – ihre Werke handeln von Sehnsüchten, Träumen und Abhängigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. In ihrem neuen Roman „Für den Rest des Lebens“ thematisiert die israelische Autorin die Lebensmitte. Im BÜCHER-Gespräch setzt sie sich mit dem Älterwerden, ihrer Heimat und der Liebe auseinander.

Frau Shalev, die Figuren in Ihrem neuen Roman stehen an Wegkreuzungen: Sie blicken auf ihr Leben zurück, machen sich Gedanken über das, was ihnen noch bleibt. Wie gehen Sie – mit 52 Jahren – mit dem Älterwerden um?

Das Leben ist für mich eine Reise, ich denke dabei nicht viel über mein Alter nach. Es ist eine Zahl, die für mich keine allzu große Bedeutung hat. Gerade als Autorin kann Lebenserfahrung eine Bereicherung sein. Das eigene Ego wird kleiner, man kann eher auf das Schreiben fokussieren. Emotionen und Erinnerungen gehen tiefer als früher. Natürlich gibt es auch eine gewisse Traurigkeit darüber, dass es Dinge gibt, die ich heute nicht mehr machen kann, nie mehr machen werde. Aber jedes Alter bringt Vorteile. Mit den Jahren wirst du realistischer, du lernst zu differenzieren, zu akzeptieren. Ich nütze diese Phase, um mir Gedanken über den Rest meines Lebens zu machen. Auch wenn niemand wissen kann, was das Morgen bringen wird. Jetzt ist die Zeit, Veränderungen  zu bewirken und Fehler wieder gut zu machen.

In Ihren bisherigen Werken standen Paare, die Liebe zwischen Mann und Frau im Vordergrund. Nun widmen Sie sich den Bindungen in Familien. Warum schreiben Sie über Beziehungen?

Beziehungen geben unserem Leben überhaupt erst eine Bedeutung. In diesem Buch geht es um Verbindungen zwischen Eltern und ihren Kindern, um  Geschwisterbeziehungen, aber natürlich auch um Paarbeziehungen. Die Figuren haben Sehnsüchte, machen die schmerzhafte Erfahrung, dass sie in der Vergangenheit falsche Entscheidungen getroffen haben.  All das – unser Leben, unsere Erfahrungen – spiegelt sich in unseren Beziehungen zu anderen.

Welche Rolle spielt Liebe in Ihrem Leben?

Liebe kann so viele Gesichter haben. Liebe ist viel mehr als die romantische Liebe zwischen Mann und Frau. Geglückte Beziehungen -  zum Partner, zu Kindern, Eltern, Freunden - sind für mich die größten Erfolge in meinem Leben. Ohne Liebe wären wir Maschinen, wir würden unsere Seele verlieren. Inzwischen merke ich, dass es mir immer wichtiger wird, Liebe zu geben. Das ist wohl eine gereifte Form der Liebe, wie sie etwa auch die Figur Dina im Buch erlebt. Sie ist Mitte vierzig und sehnt sich  nach einem Baby, sie will Zuneigung zeigen, für jemand anderen da sein.

Eine Frau mit Kinderwunsch, eine Alte im Krankenbett, ein Anwalt, der sich für Menschenrechte einsetzt. Wie versetzen Sie sich in Ihre Figuren?

Manchmal schreibe ich über Emotionen, die ich selbst empfunden habe. Ich gehe in mich und übertrage diese Gefühle auf Charaktere, deren Persönlichkeit völlig von meiner abweicht. Damit schaffe ich etwas Neues. Andere Male versuche ich, Emotionen nachzuspüren, versuche, sie zu beschreiben. Wenn ich schreibe, sind meine Empfindungen sehr tief. Als Autorin musst du mit deinen Figuren mitleben,  musst deine Figuren werden. Als ich über die alte Frau Chemda schrieb, fühlte ich  wie sie. Ich spürte, wie sie in ihrem Bett lag und auf ihr Leben zurückblickte. Es ist das erste Mal, dass ich in der dritten Person schreibe, mit ständigem Perspektivenwechsel. Manchmal hatte ich das Gefühl, an drei Romanen gleichzeitig zu schreiben.

Sie versetzten sich auch in die Figur eines Mannes, sehen aus den Augen des Sohnes Avner.

Nach zwei, drei Sätzen, kam mir das ganz natürlich vor. Virginia Woolf hatte wohl recht, als sie sagte, ein Schriftsteller sei androgyn. Ich wollte etwas Neues ausprobieren, wollte mich entwickeln, steigern. Es liegt natürlich an den Lesern zu beurteilen, ob mir das gelungen ist.

In Ihren Texten erzeugen Sie Intimität und Emotionalität. Würden Sie sich als melancholisch bezeichnen?

Melancholisch nicht, ich würde eher sensibel sagen. Ich habe die Gabe, auch die stillere, düstere Seite des Lebens zu fühlen, ich nehme die gesamte Komplexität unseres Daseins wahr. Daher neige ich wohl auch dazu, mir Sorgen zu machen oder Gefahren zu erwarten, anstatt immer ausgelassen und fröhlich zu sein.

In Ihrer Heimat – besonders in Jerusalem – gibt es viele Gefahren. Sie wurden 2004 bei dem Anschlag eines Selbstmordattentäters verletzt. Wie ist Ihre Beziehung zu Israel?

Ich habe eine sehr starke Bindung zu meiner Heimat. Es ist mein Land, ich möchte es nicht verlassen. Das soll aber nicht heißen, dass ich alles an diesem Land  mag, alles gutheiße. Ich vergleiche die Beziehung zu Israel mit einer jahrelangen Ehe. Zwischen Eheleuten gibt es auch Kritikpunkte, es ist nicht immer alles eitel Wonne. Man würde in gewissen Punkten den Partner gerne ändern, aber das ist kein Grund ihn zu verlassen. Ich habe in diesem Buch meine Heimat literarisch integriert: Die Figur Avner, der Anwalt für Menschenrechte, setzt sich mit diesem Thema auseinander.  So kann ich Gedanken über mein Land mit dem Leser teilen.

Warum war es diesmal wichtig, Ihrer Herkunft mehr Raum zu geben?

Es war ein Bedürfnis, das von innen kam. Schreiben ist oft ein unbewusster, unkontrollierter Prozess. Vieles ist intuitiv und manchmal bin ich selbst überrascht, was ich geschrieben habe. Zu meinen bisherigen drei Büchern, „Liebesleben“,  „Mann und Frau“ und „Späte Familie“, hätte es nicht gepasst, die politische Lage in Israel zu thematisieren. Hier standen die emotionalen Konflikte der Figuren im Vordergrund, die Bücher hätten wohl überall spielen können. Diesmal wollte ich der Handlung einen konkreten Hintergrund geben.

Sie geben auch Einblick in einen Kibbuz. Die Figur Chemda Horowitz, die im Buch eine alte Frau ist, wurde dort großgezogen.

Es war mir ein großes Anliegen, über den Kibbuz zu schreiben. Ich wurde selbst in einem Kibbuz geboren, meine Eltern sind aber weggezogen, als ich noch ein Baby war. Ich kann mich also nicht bewusst erinnern. Aber meine Mutter hat mir viel über das Leben im Kibbuz erzählt. Diese Lebensform hat Generationen – und besonders  meine Generation – in Israel geprägt. Die Eltern hatten wenig Zeit, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Die Gründung der Kibbuzim wurde von enormem Pioniergeist begleitet. Man wollte damals eine soziale, hilfsbereite Gesellschaft etablieren. Aber natürlich gab es auch viel Fanatismus. Manche haben davon profitiert, andere wurden Opfer dieses Systems. Indem ich das Leben im Kibbuz thematisiere, kann ich auch das Leben in meinem Land beschreiben.

Welche Parallelen gibt es zu Ihrem eigenen Leben?

In jedem Buch kann man Hinweise auf den Autor finden. Diese zu entdecken ist aber nicht immer notwendig, um das Buch zu verstehen. Als ich mit „Für den Rest des Lebens“ begann, machte ich mir Gedanken zu meinem jetzigen Leben: In welchem Lebensabschnitt befinde ich mich?  Wie geht es auch meinen Bekannten? Wir sehen unsere Eltern alt werden, meine Mutter ist vor eineinhalb Jahren gestorben. Es ist ein Buch, in dem ich meine Beobachtungen verarbeite. Es ist aber kein Buch über mein Leben.

Empfinden Sie für das Schreiben Liebe? Oder ist es eher eine Leidenschaft?

Das ist eine gute Frage. Doch, ich denke schon, dass es wirklich Liebe ist. Wenn ich schreibe, fühlt es sich an, als würde ich mich neu verlieben. Die Stunden, in denen ich schreibe, kommen mir oft vor wie ein wunderbarer Traum. Ich tauche mit all meinen Sinnen ein, baue eine Beziehung zur Sprache und zu den Worten auf. Mein Stil ist mir sehr wichtig. Das soll nicht heißen, dass ich selbstverliebt oder in meine Arbeit verliebt bin. Es geht um den Prozess des Schreibens, die Liebe zu jedem einzelnen Wort. Wenn ich nicht schreibe, fühle ich mich wie eine Pflanze ohne Wasser.

Ihr Mann ist auch Schriftsteller. Wie funktioniert eine Beziehung, in der beide derselben Profession nachgehen?

Die Tatsache, dass wir beide Schriftsteller sind, hat Vor- und Nachteile. Mein Mann kann die Freude am Schreiben mit mir teilen, kann auch die schwierigen Momente nachvollziehen. Er ist mein erster Leser, der mich immer ermutigt hat und  auch durch die ersten harten Jahre als Schriftstellerin begleitet hat. Wir konkurrieren nicht miteinander, sind nicht neidisch auf die Erfolge des anderen. Dennoch kann es schon schwierig sein, wenn einer befriedigt ist, der andere eine Phase hat, in der er an seiner Schreibe zweifelt.

Wie werden Paare denn glücklich älter?

Ich bin keine Expertin, was das Älterwerden anbelangt! Ich denke, jedes Paar muss seinen Weg finden, es hängt viel von ihrer Vergangenheit ab. Meine Figur Dina und ihr Mann Gideon haben etwa Schwierigkeiten. Dina ist allein durch die Beziehung nicht erfüllt. Sie befürchtet einen emotionalen Tod, obwohl sie ihren Mann sehr liebt. Seine Zuneigung ist distanziert, kühl. Sie will Wärme. Das Paar ist auseinandergedriftet. Viele Paare wachsen aber im Alter und mit den Jahren zusammen.

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