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Interview: Elisabeth Dietz (ed) | Fotos: Marina Taibo

Àngel de la Calle

„Wir wissen nichts über Tina Modotti“

Tina Modotti, Schauspielerin und Fotografin, Agentin und Revolutionärin, war lange Zeit nur als Freundin und Geliebte bedeutender Künstler und Politiker bekannt. Der spanische Comic-Autor Ángel de la Calle, ein unauffälliger Mann, der immer ein wenig vornüber gebeugt sitzt, als würde er jeden Moment anfangen zu zeichnen, hat ihre Biografie als Graphic Novel neu erzählt.

In „Modotti“ folgen Sie den Spuren von Tina Modotti durch Nord- und Südamerika, durch Spanien und Deutschland bis zum Pantéon Dolores in Mexico City, dem Friedhof, auf dem sie begraben liegt. Auf der letzten Seite erscheint sie Ihnen – an der Ecke einer Straße in Gíjon, die nach ihr benannt ist. Warum ausgerechnet dort?

Dass eine der neuen Straßen nach Tina benannt wird, habe ich selbst angeregt. Ich glaube, sie hätte diese Straße gemocht. Sie liegt im Industriegebiet, und Tina war eine hart arbeitende Frau. Wenn die Arbeiter nach Hause gegangen sind, ist es sehr still in der Straße, und Tina war eine stille Frau.

Im Buch starren Sie Tina Modotti eine Weile an. Dann sagt sie: „Du musst jetzt gehen.“ Sie antworten: „Ich weiß.“

Sehen Sie, das Problem mit Biografien ist, dass sie meistens mit dem Tod des Protagonisten enden. Ich wollte Tinas Leben anders erzählen, ich wollte ein gutes Ende. Außerdem ist Tina nicht tot. Sie lebt weiter im Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen und für sozialen Fortschritt. Ihr Leben war das einer Kämpferin. Ihr Körper mag auf diesem Friedhof liegen, aber ihr Geist, ihre Ideen, leben ewig. Dieses Ende war auch für mich persönlich ein Abschied. Nach vielen Jahren der Recherche und der Produktion war es Zeit, diese Obsession hinter mir zu lassen.

Und ist Ihnen das gelungen?

Nein. Meine Faszination bleibt, unverändert.

Ihre Tina Modotti wirkt mysteriös, undurchschaubar. Wissen Sie, nachdem Sie sich über 15 Jahre lang mit ihr beschäftigt haben, wer sie wirklich war?

Nein. Über Frída Kahlo wissen wir fast alles. Wir kennen ihre Gedanken und die Beschaffenheit ihrer Seele. Weil ihr Körper zerbrochen war, war sie sich ihrer Psyche sehr bewusst. Tina Modotti dagegen schrieb zwar eine Menge Briefe an Freunde, Liebhaber und Ex-Liebhaber, berichtete aber immer nur von äußeren Umständen. Wir erfahren nicht, was sie dachte. Wir wissen nichts über Tina Modotti. Weil sie einen perfekten Körper hatte, gebrauchte sie nicht viele Worte.

Was macht das Leben Tina Modottis so bedeutend für Sie?

Tina war in erster Linie eine Künstlerin, eine Fotografin. Aber in den letzten zehn Jahren ihres Lebens hat sie nicht ein einziges Foto gemacht. Und ich bin ein Comiczeichner, der, als er anfing, an „Modotti“ zu arbeiten, zehn Jahre lang keinen einzigen Comic gemacht hatte. Und ich fragte mich, wieso sie aufgehört hatte zu fotografieren.

Warum, glauben Sie, hat Tina ihre Kunst aufgegeben, und woher nahmen Sie selbst die Kraft, weiterzumachen?

Ich glaube, während ihrer letzten Zeit in Mexiko hatte sie keine Kraft, keine Zeit und nicht das Verlangen danach, wieder zur Kamera zu greifen. Sie hatte den Spanischen Bürgerkrieg miterlebt, das hat sie emotional sehr mitgenommen. Sie war eine Künstlerin, und Künstler sind darauf angewiesen, sich immer wieder neu zu erfinden. Dazu fehlte ihr die Zeit. Ich musste mich als Zeichner und Schriftsteller neu erfinden, um dieses Buch machen zu können. Das hat mich beflügelt. Und da ist es!

Warum haben Sie sich für diesen rauen, holzschnittartigen Stil entschieden?

Ich habe mich an den mexikanischen Holzschneidern des frühen 20. Jahrhunderts orientiert, insbesondere an José Guadalupe Posada. Ich brauchte einen Stil, der nicht realistisch war, denn die Geschichte, die ich erzähle, ist wirklich passiert, und realistische Zeichnungen wären da doch redundant.

In „Modotti“ erzählen Sie die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, indem Sie einer Frau folgen, die die raschen und heftigen politischen Veränderungen aus nächster Nähe miterlebt hat. Was macht Tina Modottis Perspektive einzigartig?

Tina hat dort gelebt, wo die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde: San Francisco, Los Angeles, Mexico, Berlin, Moskau, Paris und im Madrid des Bürgerkriegs. Und sie hat die Menschen getroffen, die diese Zeit aufgezeichnet, gemalt und gefilmt haben. Sie war eine Politikerin im eigentlichen Sinn des Wortes, eine Aktivistin, eine Kämpferin für die Sache. Sie hat mehrere Leben gelebt: das einer Migrantin, das einer Arbeiterin, das eines Models, das einer Schauspielerin, das einer Fotografin und das einer Agentin der Komintern. Sie liebte und wurde geliebt. Sie litt und hat Leiden verursacht.

Wenn Sie die Chance hätten, Tina Modotti zu treffen – was würden Sie sie fragen?

Ich würde sie nach Julio Mella fragen, ihrem Liebhaber und dem Gründer der Kommunistischen Partei in Kuba, der erschossen wurde und in ihren Armen starb. Ich würde sie fragen, was in dieser schicksalshaften Nacht, der vielleicht wichtigsten Nacht ihres Lebens, wirklich passiert ist. Es ist ja auch diese Nacht, mit der ich mein Buch beginne.

Sie nennen sich in Ihrem Buch „das Klischee eines Spaniers, der im 21. Jahrhundert seinen 40. feiert“. Eine der prägendsten Erfahrungen Ihrer Generation ist sicher das Ende der Franco-Diktatur. Wie hat dieses Ereignis Ihr Leben beeinflusst?

Ich habe 17 Jahre lang unter einer faschistischen Diktatur gelebt. Die Jahre nach Francos Sturz, als Spanien von einer Diktatur zu einer Demokratie wurde, waren schnell und seltsam. Ich bin kein Stalinist, und Bakunin habe ich immer mehr gemocht als Marx. Ich mag die Demokratie, weil ich weiß, was eine Stimme wert ist.

Ist der Schatten dieser faschistischen Diktatur im spanischen Alltag noch immer wahrnehmbar?

Die Diktatur ist noch immer ein schwieriges Thema in meinem Land. Man kann dort Wahlen gewinnen, indem man sagt, das Leben unter Franco sei sicherer und besser gewesen. In Spanien gab es kein Äquivalent zur Entnazifizierung, zu den Nürnberger Prozessen. Aber Spanien ist jetzt eine Demokratie mit einem Grad an Freiheit und Entwicklung, der, als Franco starb, undenkbar war.

Im autobiografischen Teil von „Modotti“ erzählen Sie, wie Sie mit Ihrem Freund, dem Krimi-Autor Paco Ignacio Taibo II im berühmten New Yorker Chelsea Hotel wohnen. Im Zimmer neben Ihrem leben ein uralter stalinistischer Superman und ein zahnloser trotzkistischer Batman, die sich permanent über ihre Vergangenheit streiten. Was lief falsch mit dem Kommunismus?

Der Stalinismus war der Tod der Ideale, die die ersten Kommunisten inspirierten. „Das Gute am Kommunismus“, sagte der spanische Schriftsteller Jorge Semprun einmal, „waren die Kommunisten.“ Die Frauen und Männer, die unter dieser Flagge die Faschisten bekämpft haben. Ich mag Tina, die unter der falschen Flagge für eine gerechte Sache gekämpft hat. Aber natürlich bin ich gegen Einparteiensysteme, Planwirtschaft und dergleichen. Der Traum der Kommunisten ist zum Albtraum geworden.

Warum haben Sie zwei westliche Helden mit kommunistischen Ideologien assoziiert?

Das ist ein Witz. Ein Spiel mit der Metasprache des Comics. Und eine andere Art zu sagen, dass auch der Traum vom Kapitalismus, den Superman und Batman symbolisieren, zum Albtraum geworden ist. Der gerade übermächtig ist, aber vielleicht bald zu Ende geht!

Wie hat die Arbeit an „Modotti“ Ihre Perspektive auf die Geschichte verändert?

Gabriel García Márquez hatte wahrscheinlich recht, als er sagte: „Ich glaube, wir haben dieses Jahrhundert verloren.“

Àngel de la Calle. Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts. Übersetzt von Timo Berger. Rotbuch, 272 Seiten, 16,95 Euro

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