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Portrait: Elisabeth Dietz (ed)

Liao Yiwu

Der große Verrückte

Weil Liao Yiwu sein Buch „Für ein Lied und Hundert Lieder“, einen Zeugenbericht über seine Zeit als politischer Gefangener in China, in seinem Heimatland nicht veröffentlichen durfte, reiste er im Juli nach Deutschland aus. Seine Mithäftlinge nannten den Dichter, Reporter und Musiker den „Großen Verrückten“.

Als ich erfahren habe, dass Liu Xiaobo verhaftet worden war, musste ich grinsen“, erzählt Liao Yiwu, „denn er sagte von sich immer: ‚Ich habe keine Feinde!‘ Xiaobo, dachte ich, jetzt haben deine Feinde dich.“ Er lacht, und es klingt unbeschwert und bitter zugleich. Der seit Dezember 2008 inhaftierte Liu Xiaobo, der Ende 2009 wegen „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ zu elf Jahren Haft verurteilt wurde, ist ein guter Freund des Schriftstellers, und die menschenrechtswidrigen Zustände in chinesischen Gefängnissen kennt Liao aus eigener Erfahrung.

Am Vorabend des Ereignisses, auf das die chinesische Regierung bis heute nur unter der Chiffre „Zwischenfall vom 4. Juni 1989“ Bezug nimmt, schrieb Liao Yiwu das Gedicht „Massaker“, einen Text wie ein Schrei. Detlef Claussen vergleicht es mit Celans „Todesfuge“, auch seiner rhythmischen Qualitäten wegen. Im Wissen, dass keine chinesische Zeitschrift dieses Gedicht veröffentlichen würde, sprach er es noch in derselben Nacht auf Kassette, seine Freunde schlugen auf Schnapsflaschen den Takt. Liaos Vortragsstil ist wild und eindringlich, er brüllt, spuckt, schluchzt, ächzt und flüstert. Er liest nicht, er performt. Im Rucksack des kanadischen Sinologen Michael Day gelangte das Band nach Chongqing und Chengdu, nach Shanghai, Nanjing und Beijing, wurde von Untergrundpoeten kopiert und weiter verbreitet. „Das Jahr 1989 war wie ein Kriegsjahr“, erinnert sich Liao. „An Bahnhöfen, auf Flughäfen, in den Straßen – überall wurden Leute verhaftet. Aber in diesem Jahr wurde ‚Massaker‘ am meisten gelesen und gesungen.“ Wegen jenes Gedichts und des Films „Requiem“, der Fortsetzung von „Massaker“, wurde Liao im Februar 1990 festgenommen, der „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischer Hilfe“ angeklagt und zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt.

Eine Speisekarte der Foltermethoden

In seinem fast 600 Seiten starken Zeugenbericht beschreibt Liao die kafkaesken Verhöre, die Grausamkeiten der Häftlinge untereinander, die Demütigungen durch das Wachpersonal und die unverhältnismäßigen Strafen für Regelverstöße. Im Untersuchungsgefängnis von Chongqing, wo sich bis zu dreißig Häftlinge eine Zelle teilten, kursierte eine inoffizielle Speisekarte der Folterungen: „Bärentatzentofu“ wird aus harten Schlägen gegen den Brustkorb zubereitet, beim „Flugzeug“ wird der zu Bestrafende von seinen Zellengenossen hochgehoben und so fallen gelassen, dass er mit dem Gesicht zuerst aufschlägt. „Kampagnen für freizügige Geständnisse und Anzeigen“, während derer die Zellenobersten ihren Mitgefangenen Geständnisse abpressten, und „Kampagnen zur Bekämpfung tyrannischer Knastkönige“, während derer sie von den Beamten, für die sie folterten, für eben diese Folter bestraft wurden, gingen zyklisch ineinander über. „Dass im Gefängnis jemand totgemacht wurde“, schreibt Liao, „das war so alltäglich wie Reis zum Essen.“ 1997 gab die chinesische Regierung unter internationalem Druck das System in ihren Untersuchungsgefängnissen auf.
 
„Für ein Lied und hundert Lieder“ ist ein hässliches Buch. Die Hitze, die Kälte, die üblen Gerüche und das allgegenwärtige Ungeziefer kriechen bis in die Metaphern. Liao schreibt wie jemand, der keine Angst mehr hat: Sein Blick ist sehr genau. „In dieser widerwärtigen Nähe war ich die ganze Zeit über gezwungen, mich selbst und meine Mitgefangenen zu beobachten“, erinnert er sich. Deutlich schildert er die lächerlichen Seiten des Knastlebens, etwa, wie die Gefangenen sich im Sommer gegenseitig Zahnpasta in den After drücken, um die Illusion von Kälte zu erzeugen. Er erzählt auch, wie ihn seine Zellengenossen fütterten, wenn man ihm zur Strafe die Hände auf den Rücken fesselte, einmal 23 Tage lang. Und wie sie für einen zum Tode verurteilten Straßenräuber noch zu Lebzeiten eine ironische, aber prachtvolle Totenfeier improvisierten, eine Parodie Jiang Zemins inbegriffen. Er spart aber auch nicht aus, wie er selbst sich in die Gefängnishierarchie einfügte und seinen kriminellen Mitgefangenen immer ähnlicher wurde.

Schreiben als Entgiftungsprozess

„Im Gefängnis habe ich fast sämtliche Menschenwürde verloren“, sagt Liao. „Ich habe mich gefühlt wie ein Hund.“ Schreibend verwandelte er sich in einen Menschen zurück. „Das war ein Entgiftungsprozess.“ Für das erste Manuskript benötigte er etwa ein Jahr. Er hatte das Gefühl, sich beeilen zu müssen, denn er war mittellos und wohnte bei seinen Eltern. Seine Frau hatte, während Liao im Gefängnis saß, die Scheidung eingereicht. Das Manuskript wurde kurz nach seiner Fertigstellung beschlagnahmt, Liao verhaftet. „Scheiße“, dachte er, „was habe ich schon wieder angerichtet? Immer mache ich Schwierigkeiten. Vielleicht darf ich nie wieder schreiben. Es ist zu schwierig, zu gefährlich.“ Nach zwanzig Tagen in der Zelle eines Polizeireviers ließ man ihn frei, das Manuskript behielt die Nationale Sicherheitsbehörde. „Danach habe ich gelebt wie ein Schwerkranker. Ich habe nur dagesessen und konnte nichts tun. Nach ein paar Monaten habe ich noch einmal meine Gedichte aus dem Gefängnis gelesen. Plötzlich sah ich die Szenen, die hinter den Gedichten stehen, wieder deutlich vor mir. Und da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.“ Zweimal wurde das Manuskript beschlagnahmt, zweimal rekonstruierte Liao die fehlenden Kapitel. Per Hand, in winzigen, rasch hingeworfenen Zeichen, bedrückt von der Angst, etwas Wichtiges zu vergessen. „Das war eine Qual. Aber während ich all das zum dritten Mal schrieb, erinnerte ich mich auf einmal an Dinge, an die ich beim ersten Mal gar nicht gedacht hatte.“ Währenddessen schlug er sich als Straßenmusiker und Gelegenheitsarbeiter durch. 2001 brachte der Beijinger Yangzi Verlag sein Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ heraus, eine Sammlung von Interviews mit Außenseitern der chinesischen Gesellschaft. Der Band, in dem unter anderem eine Prostituierte, ein Menschenhändler, ein Klomann und die Familie eines Opfers des Massakers auf dem Tian‘anmen-Platz zu Wort kommen, wurde nach einem Monat verboten, das Verlagshaus mit einer Geldstrafe von umgerechnet einer Million Euro belegt. Seitdem hat Liao in China kein Wort mehr veröffentlichen können, nicht einmal unter Pseudonym.

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