Das Debut: Jan Brandt
Daniel entgleitet langsam aus der Wirklichkeit, und doch ist er einer der wenigen, der ganz in der Welt verankert zu bleiben scheint – nur, dass er sich ihr nicht mitteilen kann. Selbst als er sich gegen den aufkommenden Nationalsozialismus stellt, wird er für die fluoreszierenden Hakenkreuze verantwortlich gemacht, die die Hauswände in Jericho schmücken. Zeitgeschichtliche Fakten und innerdörfliche Fiktion gehen dabei Hand in Hand, die Figuren sind so lebensnah, als würde man entfernte Verwandte besuchen.
Jan Brandt sagt dazu: „Der Journalismus schärft das Bewusstsein für die Geschichte, die man erzählen will. Um was geht es? Was sind das für Leute? In welchem Milieu bewegen die sich? Was hat sie geprägt? Was wollen sie? Und was ist der Konflikt?“ Viele Fragen, aber es dürften nicht weniger sein, um seine Genauigkeit durchzuhalten. Jan Brandt war Journalist unter anderem bei der taz, der FAS und der Süddeutschen bevor er sich dem literarischen Schreiben widmete. „Der Journalismus hat mein literarisches Schreiben stark beeinflusst, der Einstieg in eine Geschichte, die Präzision in der Beobachtung und Beschreibung, die Bedeutung der Fakten“, sagt er und seine Detailfülle gibt ihm recht. Seine Beschreibungen wirken wie erlebt, kaum möglich, sich so etwas auszudenken und doch behauptet der in Leer in Ostfriesland aufgewachsene Autor, nur eine Passage sei autobiografisch: „Die mit dem Alien.“
Als Autor von Kurzgeschichten und als Journalist war er zunächst mit seinem literarischen Stil nicht zufrieden. „Ich habe das Gefühl gehabt, das sei nichts Besonderes, nichts Eigenes, nichts Originelles“, bedauert er. Trotzdem ließ ihn der Roman, den er schreiben wollte, nicht los und nun lässt er den Leser an dem teilhaben, was seinen eigenen hohen Ansprüchen genügt. Und das ist ein Glück, denn mit „Gegen die Welt“ bekommt die Generation, deren Adoleszenzkrise mit dem Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende zusammenfiel, ihren Roman. Dieses „Nicht- Loslassen“, ein Packen, sozusagen ein Ziehen, hat er in die Geschichte hinein geschrieben. Es erfasst auch den Leser.
Es gab eine Zeit in den Neunzigern, da kam es vielen jungen Menschen so vor, als sei der Wahnsinn allgegenwärtig. Die Wende, Angst vor dem Millennium-Bug und der Bosnienkrieg berühren „Jericho“ wenig, aber das Destruktive, Verwirrende, die Endzeitstimmung dieses Jahrzehnts sehr wohl. Nicht umsonst sangen „Tocotronic“ „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, weil es diese nicht gab und Diversität und Begegnungsunfähigkeit das Hauptmerkmal einer ganzen Generation darstellten – und die Suche nach einem wahren Glauben. Jan Brandt gelingt es in einem kleinen Dorf auf dem platten Land, wo Fortschritt und Veränderung Generationen brauchen, das Tempo und die Verunsicherung dieser Jahre so lebendig auferstehen zu lassen, dass „Jericho“ zu einem Sinnbild für die eigene Jugend werden kann. An Daniel Kupers Seite, gegen die Welt. Es ist ein berührendes, aufwühlendes und brillantes Buch und das deutsche Debüt des Jahres!
Jan Brandt: Gegen die Welt. Dumont, 921 Seiten, 22,90 Euro