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Portrait: Meike Dannenberg (md) | Fotos: severafrahm

Debütantinnenball: Lisa-Maria Seydlitz

Sommertochter

In der literarischen Welt ist derzeit jung, wer nach 1970 geboren ist, und sehr jung, wer eine Acht im Geburtsjahr vorweisen kann. Nicht weniger als vier sehr junge Autorinnen, die ein interessantes, ein poetisches oder anrührendes Buch geschrieben haben, stellen sich in diesem Bücherfrühling dem Leser vor.

Lisa-Maria Seydlitz, Jahrgang 1985 und Absolventin des Studiengangs Kreatives Schreiben in Hildesheim, hat in ihrem Erstlingswerk „Sommertöchter“ ebenfalls über Verlust geschrieben. „Die Geschichte hat zwar einen wahren Kern, aber das ist generell auch ein Thema, das mich sehr beschäftigt.“ Schon zu Lebzeiten des Vaters erhält in der Geschichte die Familie anonyme Anrufe und Postkarten, auf die die Mutter hysterisch reagiert und ihr Mann mit dem ihm eigenen Stoizismus – dazwischen ein irritiertes und unglückliches Kind, dem Lisa-Maria Seydlitz mit nur wenigen Strichen Leben einzuhauchen versteht. Die Leerstellen im Leben, der abwesende Vater, die Unklarheit über seine ominöse Erkrankung, machen einen Verlust spürbar, der sich schon vor dem eigentlichen Tod des Vaters vollzog. Jahre später kommt dann dieser Brief ohne Absender an die Tochter. Nur ein Polaroidfoto von einem Fischerhaus in Frankreich mit der Bitte, sich um dessen Verbleib zu kümmern. Die Mutter spielt einmal mehr die unter Amnesie Leidende und dennoch steckt sie Juno mit den Worten „Dieses Haus ist auch dein Erbe“ einen Schlüssel zu. Der Schlüssel zu einer fremden Vergangenheit, aber auch zu ihrer eigenen, auf die sie sich bislang keinen Reim machen konnte.

Juno und Julie

„Alle meine Texte handeln in irgendeiner Form von Verlust – egal ob es nun um  Freundschaft, Liebe, Familienmitglieder oder Partner geht. Gleichzeitig wollte ich aber auch die Hoffnung zu Wort kommen lassen. Dass der Verlust nicht alles niederreißt und kaputtmacht, sondern dass durch ihn auch Neues entstehen kann“, sagt die junge Autorin, deren Sprache nicht so sehr das Destruktive betont, sondern sich auch an der Sonne und den Momentaufnahmen des französischen Sommers und des heimatlichen Hauses ergötzt. Der Titel „Sommertöchter“ deutet diese helle Seite der Geschichte bereits an. Als die Ich-Erzählerin Juno, geboren zur Mittsommernachtswende, losfährt, ist es Sommer. In dem geerbten Haus an der französischen Atlantikküste trifft sie auf Julie. Juni und Juli. Trotz dieser, in der Namensgebung bereits angedeuteten Wesensverwandtschaft, ist das Verhältnis zwischen den beiden anfangs nicht gerade herzlich. „Das Mädchen sieht aus, als wolle sie mich verscheuchen wie den Vogel“, heißt es da. Junos traurige Familiengeschichte bricht sich in episodischen Rückblicken immer wieder Bahn. Der depressive Vater, die sprachlose Mutter, die ihrer älteren Tochter die Liebe entzieht. Und ein verunsichertes Kind auf der Suche nach Harmonie. „Ich mag einfach solche Brüche. Wenn oberflächlich gesehen alles schön beschrieben ist, unterschwellig aber die Probleme durchscheinen. Die Bilder stehen bewusst im starken Kontrast zum Inhalt.“

„Welthaltigkeit“? „Fräuleinwunder“?

Bei jüngeren Autoren, vor allem bei welchen, die sehr nah an ihrer eigenen Lebenswelt erzählen, spricht man schon länger von „Welthaltigkeit“, eine Worthülse, die ähnlich katastrophal wie „Fräuleinwunder“ anmutet. Warum sind schreibende, junge Frauen ein Wunder? Warum ist Alltag im Roman die ganze Welt? Einige dieser jungen Autorinnen erzählen nah dran an ihren Erfahrungen, lassen den Leser so etwas wie den Sound der Jugend erleben, mit all seinen schrägen und zarten Tönen. Liebe und Beziehung spielen in ihren Büchern erstaunlicherweise eine weniger zentrale Rolle als der fehlende Zusammenhalt oder das Auseinanderbrechen von Familie, die Entwurzelung in der Gesellschaft und der Tod.

Drei der jungen Schriftstellerinnen erzählen aus der ersten Person, einem Ich, das in Alter und Geschlecht ihnen in etwa entspricht. Fiktion und Autobiografisches lassen sich so wohl nur schwer trennen, aber das ist auch überflüssig, denn die Romane machen die daraus entstehende Intimität aus. So öffnet Olga Grjasnowa durch ihre Protagonistin, die, wie sie selbst, aus Aserbaidschan nach Deutschland immigrierte, die Tür in eine nach außen perfekt assimilierte Migrationskultur. Doch auch wenn Mascha sieben Sprachen spricht, bleibt sie stumm, wenn sie sich an ihre Erlebnisse als Kind im Bürgerkrieg in Baku erinnert.

Gute Voraussetzungen

Doch die Autorinnen sind Realistinnen, distanzieren sich auf Nachfrage vom erzählerischen Ich. Lisa-Maria Seydlitz fängt Gefühle des Sommers ein, erzählt in der ersten Person, Juno, vom Verlust des Vaters und der Kindheit. Juno sucht etwas, das sie verloren hat und wird dafür belohnt. Cornelia Travniceks Protagonistin, in ihrer geballten Wut auf die Welt und das Verlassen werden, ist authentisch und leidenschaftlich, der Roman eine Coming-of-Age Geschichte unter drastischen Bedingungen. Nur Nina Bußmann versetzte sich in einen Protagonisten, der durch Alter und Geschlecht ihrer eigenen Person diametral entgegengesetzt ist – und löste diese selbstgestellte Aufgabe mit einer Bravour, die ihr in Klagenfurt den 3-Sat-Preis einbrachte.

Alle diese jungen Debütantinnen haben bereits Geschichten veröffentlicht, Stipendien erhalten, Kurzgeschichtenpreise gewonnen oder sogar literarische Studiengänge besucht. Ihnen allen sind Prädikate verliehen worden, die sie weitergebracht, gefördert und aufgebaut haben, bis zu diesem ersten Buch in einem namhaften Verlag. Noch nie war die literarische unabhängige Kultur in Deutschland so produktiv wie zurzeit: Lesebühnen, Wettbewerbe, Poetry-Slams und Blogs. Stipendien, Schreibgruppen und Autorenforen liefern Kritik, finanzielle Starthilfe und Bestätigung. In der Peripherie dieser Schreib- und Lesekultur entwickelten sich diese Romane, die einmal mehr Kritiker und Leser aufhorchen lassen werden: so jung und so gut?! Kein Wunder. Eine erfreuliche Entwicklung.

Lisa-Maria Seydlitz: Sommertöchter. DuMont, 208 Seiten, 18,99 Euro

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