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Kurzgeschichten-Wettbewerb – Die Gewinnergeschichte: Redrum kommt nach Hause

Aus der Nähe machte das Gebäude auch keinen besseren Eindruck. Kalt, grau, heruntergekommen. Es stank nach Altmännerpisse. Die Wände waren mit obszönen Graffitis und Sprüchen beschmiert. Wer sich über die unsäglichen Plattenbauten im Osten aufregte, der sollte mal einen Abstecher nach Frankfurt-Sossenheim machen. Auch westdeutsche Architekten wussten, wie man hässliche Wohnhäuser baute.
Frank wischte sich angewidert die Hand an seiner Jacke ab, nachdem er den Klingelknopf von Erwin Trabel gedrückt hatte. Eine krächzende Stimme meldete sich.
„Fünfter Stock. Die zweite Tür links“, war alles, was Frank zu hören bekam, bevor der Summer der Haustür ertönte. Trabel schien es eilig zu haben. Frank versuchte, die vor Dreck starrende Haustür aufzustoßen, indem er den Türgriff nur mit seinem Ellenbogen herunterdrückte.
Im Halbdunkel der spärlich beleuchteten Eingangshalle blieb er stehen und blickte sich um. Hier drinnen sah es auch nicht einladender aus. Der Uringestank war noch intensiver. An der Wand hingen Suchanzeigen für gestohlene Fahrräder und entlaufene Hauskatzen. Keine einzige der zum Mitnehmen vorbereiteten Telefonnummern war abgerissen worden. Nette Nachbarschaft, dachte Frank und suchte nach dem Fahrstuhl.
Sein Blick glitt über Unrat, der sich in den Ecken gesammelt hatte. Leere Pappbecher, Schokoriegelpapier, alte Zeitungen. Eine aktuelle Ausgabe der Offenbach-Post war auch dabei. Frank hatte sie in der S-Bahn gelesen und kannte bereits die Schlagzeile, die ihm in Großbuchstaben entgegensprang.
„Unheimlicher Redrum-Killer schlägt erneut zu“, stand da zu lesen.
Unheimlich war daran vor allem, wie sich die Sprache seiner Lieblingstageszeitung plötzlich an den reißerischen Schlagzeilen gewisser anderer Tagesblätter orientierte und deren Stil nacheiferte.
Dennoch. Redrum. Das hatte Frankfurt noch nicht erlebt. Ein Serienkiller, der an den Tatorten stets dieses Wort hinterließ. Wie eine geheime Botschaft. Frank kannte das Wort gut. Ein bizarrer Zufall wollte es, dass das Buch, aus dem dieses Wort stammte, der Grund war, weshalb er sich in diesem widerlichen Plattenbau befand. Er schüttelte die aufkommende Gänsehaut ab, die seine Arme überziehen wollte.
Der Fahrstuhl befand sich hinter einer Ecke. Frank drückte den Rufknopf und wartete. Eine Weile tat sich überhaupt nichts.
Plötzlich fiel die Haustür scheppernd ins Schloss. Das Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Eine alte Frau schlurfte an ihm vorbei zur Tür, die ins Treppenhaus führte. Sie warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu. Frank versuchte ein freundliches Kopfnicken, das die Alte lediglich mit einem verächtlichen Schnauben erwiderte.
„Auf den können Sie lange warten“, sagte sie. „Kein Verlass auf die Dinger. Treppe geht schneller.“
Sie verschwand im Treppenhaus. Frank seufzte. Vielleicht hatte sie recht, und er sollte auch zu Fuß gehen. Fünf Stockwerke waren doch nicht viel. Allerdings hatte Franks Körper schon einmal bessere Zeiten erlebt. In den letzten Jahren hatte er so gut wie keinen Sport getrieben und sich von Dingen ernährt, die vor allem aus Fett und Zucker bestanden. Allein der Gedanke an die Anstrengung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
Seine Zweifel wurden durch einen hellen kurzen Klingelton beseitigt, der den Fahrstuhl ankündigte. Die Türen öffneten sich unendlich langsam. Eine weitere unangenehme Duftwolke strömte Frank entgegen. Er betrat die schmale Kabine; dabei versuchte er, möglichst flach durch den Mund zu atmen. Hoffentlich lohnt sich der ganze Aufwand, dachte er genervt.
Gerade als er den Knopf für die fünfte Etage gedrückt hatte, tauchte ein weiterer Fahrgast auf und schob sich an ihm vorbei in die Kabine. Der Mann überragte Frank um fast einen Kopf. Sein Gesicht hatte er unter einer Kapuze verborgen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Frank sah den Mann fragend an. Der machte keine Anstalten, ein Stockwerk auszuwählen.
„Wollen Sie auch in den fünften?“, fragte Frank. Kapuze nickte stumm.
Die Türen schlossen sich fast noch langsamer, als sie sich geöffnet hatten. Ächzend setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Nach einer endlos scheinenden Zeit sprang die Stockwerkanzeige vom E auf die 1.
Frank lehnte sich an die Wand; plötzlich fiel ihm ein, wie dreckig hier alles war, und er stellte sich stattdessen in die Mitte der Kabine. Von dort starrte er auf die Anzeige, als könnte er die Fahrt dadurch beschleunigen. Er fragte sich, ob vielleicht irgendwo im Keller ein alter Mann auf einem aufgebockten Fahrrad saß, mit dem diese Konstruktion zum Laufen gebracht wurde. Das hätte die extreme Lahmarschigkeit des Fahrstuhls erklärt.
Kapuze stand hinter Frank und fixierte ihn. Frank spürte fast körperlich, wie Kapuze mit seinen Blicken Löcher in Franks Rücken bohrte. Komischer Typ. Wen der wohl besuchen wollte? Wahrscheinlich wohnte er hier. Die Hälfte der Bewohner musste aus solchen kaputten Typen wie Kapuze bestehen. Ob Erwin Trabel auch so ein Wrack war? Frank wollte das Geschäft mit ihm so schnell wie möglich hinter sich bringen. In seiner Brusttasche befanden sich 500 Euro Bargeld. Trabel schien nicht zu wissen, wie viel das Sammlerstück tatsächlich wert war. Frank hätte auch mehr dafür bezahlt. Er fühlte sich mit dieser Menge Geld in Gegenwart von Kapuze nicht wohl. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, das Buch persönlich abzuholen, statt es sich zuschicken zu lassen, wie Trabel es vorgeschlagen hatte.
Die Neonröhren an der Decke, die ein ungesundes, grünstichiges Licht verbreiteten, begannen zu flackern. Als sie die dritte Etage passierten, leuchteten die Lampen laut summend auf und erloschen auf einmal. Als wäre das nicht schon Grund genug, in Panik zu verfallen, ging ein Ruck durch den Fahrstuhl und ließ die Kabine erbeben. Frank vergaß den Schmutz und versuchte, sich an der Wand festzuhalten. Für einen schrecklichen Moment fühlte es sich an, als stürzte die Kabine in die Tiefe, bevor sie einen letzten Satz machte und anhielt.
„Scheiße!“, stieß Frank hervor. Die Dunkelheit um ihn herum war vollkommen. Er drückte sich mit dem Rücken an die Wand und schnaufte schwer. Aus Kapuzes Ecke war nichts zu hören außer seinen gleichmäßigen Atemzügen.
„Alles … alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte Frank.
„Sicher“, antwortete Kapuze.
Frank glaubte herauszuhören, dass der Typ grinste. Schön, dass ihn die Situation so amüsierte.
„Sollte hier nicht bald eine Notbeleuchtung angehen oder so?“, fragte Frank in die Finsternis hinein. Er erhielt keine Antwort. Stattdessen musste er bestürzt feststellen, dass die Atemgeräusche jetzt aus einer anderen Richtung zu kommen schienen. Wie konnte der Kerl sich so lautlos bewegen? Noch dazu in absoluter Dunkelheit?
Nur nicht durchdrehen, dachte Frank. Ihm fiel sein Handy ein. Hektisch durchwühlte er seine Jacke, bis sich seine zitternden Finger um das Gerät schlossen. Er zog es hervor und schaltete das Display ein. Sofort tauchte es die Umgebung in ein unwirkliches, bläuliches Licht. Kapuze stand tatsächlich nicht mehr in der hinteren Ecke der Kabine, sondern vorn an der Tür, direkt neben der Schaltleiste. Sein Gesicht blieb im Dunkeln verborgen, doch das spöttische Lächeln, das seine Lippen umspielte, konnte Frank zu seiner Verärgerung deutlich erkennen.
Frank gab sich einen Ruck und trat an die Schaltleiste heran. Er fand den Notrufknopf und drückte ihn. Nichts. Er drückte ihn ein weiteres Mal, hielt ihn diesmal länger unten, bevor er ihn losließ und angestrengt lauschte. Aus dem Lautsprecher über dem Rufknopf kam kein Geräusch, nicht einmal das leiseste Knacken.
„Hallo?“, rief Frank in den Lautsprecher hinein. „Hallo?“
Kapuze lachte leise. Frank drehte sich zu ihm um. Langsam hatte er die Nase voll von diesem Typen.
„Finden Sie das etwa lustig?“, fragte er ihn. Das Display schaltete sich ab. Vor Franks Augen tanzten kleine Lichtpunkte. Hastig aktivierte er das Smartphone wieder und hielt es so, dass er Kapuzes Gesicht besser sehen konnte. Lief da etwa eine Narbe quer über die Wange?
Kapuze grinste immer noch. „Kommen Sie, vergessen Sie’s“, sagte er nun mit leiser Stimme. „Das ist ein Stromausfall. Da funktioniert gar nichts. Wir werden warten müssen.“
Kapuze ließ sich auf den Boden sinken und machte es sich im Schneidersitz gemütlich. Frank starrte auf ihn hinunter; sein leuchtendes Display war auf den Mann gerichtet.
„Jetzt nehmen Sie das hässliche Licht da weg“, raunzte ihn Kapuze an und hob einen Arm, um Franks Hand mit dem Smartphone zur Seite zu drücken. „Davon kriegt man ja Kopfschmerzen!“
Frank ließ das Display eingeschaltet, hielt es aber nun auf sich selbst gerichtet. Mit dem Daumen strich er über das Menü und probierte verschiedene Optionen aus, bis er frustriert aufstöhnte. Hier drin hatte er keinen Empfang.
Kapuze stieß ein weiteres spöttisches Lachen aus. „Das hätte ich Ihnen gleich sagen können.“
Frank konnte sich nicht überwinden, sich ebenfalls auf den schäbigen Fußboden zu setzen. Er blieb neben der Schaltleiste stehen und lauschte auf jedes noch so leise Geräusch, das von draußen hereindrang. Doch bis auf eine Tür, die irgendwo über ihnen mit lautem Knall zufiel, war nichts zu hören.
Es war kurz nach sieben Uhr abends. Was, wenn sie die ganze Nacht hier drin verbringen mussten? Die Luft kam Frank plötzlich furchtbar stickig vor. Stehen konnte er auch nicht mehr lange. Immer wieder drückte er auf das Display, sobald es Anstalten machte, sich abzuschalten. Der Akku lag nur noch bei 25 Prozent. In einer halben Stunde würde das Handy zu nichts mehr zu gebrauchen sein. Frank hatte bisher nicht unter Platzangst gelitten. Jetzt schien der richtige Zeitpunkt gekommen, um damit anzufangen.
„Wollen Sie sich nicht auch hinsetzen?“, fragte Kapuze nun in deutlich milderem Tonfall.
Frank seufzte ergeben, bevor er sich umständlich niederließ. Bei seiner Figur auf diesem engen Raum war das gar nicht so einfach. Das Display seines Handys wurde abermals dunkel. Diesmal ließ er es aus.
„Erzählen Sie mal“, fing Kapuze an. „Sie wohnen nicht hier, richtig? Was treibt Sie in dieses beschissene Loch?“
Wollte er Smalltalk führen, um Frank zu beruhigen? Oder wurde Kapuze etwa auch langsam nervös? Das erschien ihm unwahrscheinlich. Was soll’s, dachte Frank. Irgendwie mussten sie die Wartezeit totschlagen, bis endlich jemand kam und sie hier herausholte.
„Ich wollte etwas abholen“, erklärte Frank. „Ich habe etwas gekauft und wollte es nicht so gern mit der Post kommen lassen. Tja.“ Er schob ein unsicheres Lachen hinterher.
„Muss ja wertvoll sein“, mutmaßte Kapuze.
„Für mich schon.“
„Und was ist es?“ Kapuze beugte sich vor. Zumindest hatte Frank den Eindruck, denn Kapuzes Atemgeräusche waren jetzt näher. „Unter uns gesagt“, begann er, „hier wohnt doch nur asoziales Volk. Kann mir nicht vorstellen, dass auch nur einer von denen etwas so Wertvolles besitzt, dass jemand wie Sie dafür den Weg hierher auf sich nimmt.“
Frank fühlte sich mulmig. Kapuzes plötzlich so vertrauliche Art ließ ihn misstrauisch werden. Auf gar keinen Fall durfte er erwähnen, dass er das Geld für den Kauf bei sich trug.
„Es ist ein Buch.“
Kapuze erwiderte nichts.
„Es wurde vom Autor signiert“, fuhr Frank fort. „Zudem handelt es sich um eine mittlerweile vergriffene Ausgabe. Man kommt schwer an so was ran. Ich habe es im Internet ersteigert.“
„Von welchem Autor denn?“ Irgendwie klang Kapuzes Stimme ein wenig belegt. Verdammt, dachte Frank. Wann fuhr dieser elende Fahrstuhl endlich weiter? Er wollte hier raus.
„Es ist der Roman The Shining von Stephen King“, sagte Frank. „Kennen Sie Stephen King?“
Kapuze schnaubte laut. „Ob ich Stephen King kenne? Ich habe alles von ihm gelesen! King ist der Größte!“
Ein Gleichgesinnter. Wie schön. Trotzdem hätte Frank nichts dagegen gehabt, dieses Gespräch jetzt beenden zu können. Irgendetwas an Kapuze war merkwürdig. Verdächtig geradezu. Und dieses Gefühl hatte nichts mit den 500 Euro in Franks Brusttasche zu tun. Es war die Art, wie dieser Kerl von Stephen King sprach.
„Und diese signierte Erstausgabe haben Sie hier in dieser Absteige entdeckt. Das ist ein Ding.“ Kapuze schnaufte. „Und der Verkäufer wohnt im fünften Stock, sagten Sie?“
„Ja“, erwiderte Frank tonlos.
„Ich kenne die Leute, die da wohnen. Die Gernbachs können es nicht sein. Die lesen höchstens BILD. Und die alte Bauscher? Nee, die hat gar keine Ahnung von Büchern. Die hat nur ihre Katzen im Kopf. Und die Müllers können es auch nicht sein. Die haben drei Kinder, und in ihrem Haushalt gibt es garantiert nichts, das wertvoller ist als ‘ne benutzte Windel.“
Wieder dieses irritierende Kichern. Er tippte Frank auf die Schulter. Frank zuckte zusammen. Kapuze hingegen schien die Dunkelheit überhaupt nichts auszumachen.
„Der alte Trabel hat sie Ihnen verkauft, richtig? Da wette ich meinen Arsch drauf!“
Franks Mund war völlig ausgetrocknet. Er räusperte sich, bevor er zögernd antwortete: „Ja.“
Kapuze lachte leise, doch es klang bitter.
„Was für ein Zufall“, sagte er.
Frank schaltete sein Display ein. Er tat so, als wollte er nachsehen, ob er mittlerweile Empfang hatte. Dabei versuchte er, einen Blick auf sein Gegenüber zu erhaschen. Kapuze hatte seine Kopfbedeckung zurückgeschlagen. Die kurzgeschorenen Haare verliehen seinem ohnehin kantigen Gesicht einen harten, kalten Ausdruck. Die Narbe, die Frank schon vorhin bemerkt hatte, verlief quer über Kapuzes linke Wange, vorbei am Auge bis zur Stirn und endete irgendwo am Haaransatz. Sie sah aus wie ein tiefer Graben, dessen Geheimnis verborgen im Schatten lag. Kapuzes Augen funkelten, strahlten etwas Raubtierhaftes aus. Er blieb ganz ruhig sitzen und ließ zu, dass Frank ihn musterte.
Dann griff er nach dem Handy und nahm es an sich. Frank wehrte sich nicht. Er fühlte sich auf eine Weise gelähmt, als wäre er das Kaninchen und Kapuze die Schlange, die es in ihren Bann geschlagen hatte.
Kapuze hielt das Display so, dass es sie beide von unten anleuchtete, was ihren Gesichtern das Aussehen von Gespenstern in der Geisterbahn verlieh.
„Sie mögen also Stephen King? Sie mögen Geschichten?“, raunte Kapuze ihm zu. „Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen. Als ich vier Jahre alt war, verlor ich meine Mutter, und mein Vater gab mir die Schuld an ihrem Tod. Sie hatte Gardinen aufgehängt, während ich neben ihr spielte. Als sie vom Hocker runterstieg, trat sie auf meinen Ball, verlor das Gleichgewicht und stürzte so unglücklich, dass sie sich das Genick brach. Ich hockte stundenlang neben meiner toten Mutter und versuchte, sie aufzuwecken, bis mein Vater heimkam. Da verprügelte er mich zum ersten Mal. So ging das all die Jahre weiter. Egal, was ich versucht habe, ich konnte es ihm nie recht machen. Er war sowieso die meiste Zeit viel zu besoffen, um überhaupt zu merken, was ich tat.
Irgendwann hörte ich auf, es zu versuchen. Ich wurde stattdessen zu dem Monster, zu dem mich mein Alter sowieso schon abgestempelt hatte. Wissen Sie, ich sah gern Dingen beim Sterben zu: kleinen Vögeln. Katzen. Und ich las gern. Mein Alter besaß ein paar Taschenbücher, da war auch eine Ausgabe von The Shining dabei. Es war der erste Roman vom King, den ich gelesen habe. Für mich eine Art Erleuchtung. Aber für alles andere fehlte mir das Interesse. Ich flog von einer Schule nach der anderen, und schließlich bin ich einfach nicht mehr hingegangen.
Wie sagt man so schön: Ich geriet auf die schiefe Bahn. Ich fing selbst an zu trinken. Und ich rauchte wie ein Schlot. Autos knacken, Handtaschen klauen, so was in der Art. Dinge sterben lassen. Ab in den Jugendknast. Wieder raus, rückfällig geworden. Immer wieder Raubüberfälle, Schlägereien. Einmal überfiel ich mit ein paar Kumpels einen Bücherladen. Die anderen klauten das Geld aus der Kasse. Ich schnappte mir ein Buch vom King, das dort ausgestellt war.
Irgendwann verprügelte ich einen Typen, bis er fast tot war. Ich weiß gar nicht mehr, warum. Die Bullen haben mich von ihm runtergerissen, sonst hätte ich ihn wirklich totgeschlagen. Mir gefiel, wie das Blut aus seinen Ohren lief. Ich hätte ewig so weitermachen können.“
Frank spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Oh Gott, wovon redete der Kerl da bloß? Warum erzählte er ihm diesen Irrsinn? Das alles konnte unmöglich wahr sein. Die Angst packte Frank und hielt ihn so fest, dass es weh tat.
„Bitte“, flüsterte er heiser. „Bitte, hören Sie auf.“
Kapuze legte eine Hand schwer auf Franks Schulter. „Aber nein, mein Freund, hören Sie mir zu. Die Geschichte geht weiter. Sie wird noch richtig gut! Die steckten mich in den Knast und sorgten dafür, dass ich in psychologische Behandlung kam. Als wenn das noch irgendetwas hätte reparieren können! Mein Alter hat mich in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal besucht. Da saß er vor mir, schaute mich ewig an und sagte schließlich: Sieh dich an. Was ist aus dir geworden? Und wissen Sie, was ich geantwortet habe: Das hast du aus mir gemacht. Gefällt es dir? Und ich lachte. Da stand mein Vater auf und ging. Er kam nie wieder.
Aber ich verbrachte eine gute Zeit im Bau. Den Psychologen erzählte ich, was sie hören wollten. Ich benahm mich anständig. Und ich las. Die hatten eine ziemlich gute Bücherei da im Gefängnis. Lauter Krimis und ein paar Bücher vom King. Die las ich so oft, bis ich sie auswendig kannte. Ich arbeitete in der Bücherei und sorgte dafür, dass weitere King-Bücher aufgenommen wurden. Das war meine Flucht. Raus aus dem Horror, der sich Alltag nannte. Ich sage nicht, dass King es war, der mir zeigte, wie ich mein Leben auch leben konnte. Doch ich beschloss, alles dafür zu tun, aus diesen Mauern rauszukommen. Und ich schaffte es. Irgendwann entließen sie mich. Ich musste mich nur regelmäßig bei meiner Psychotante melden. Die bescheinigte mir meinen hervorragenden Seelenzustand, und ich konnte da draußen tun und lassen, was ich wollte.
Ich ließ weiterhin Dinge sterben, aber kleine Tiere reichten mir bald nicht mehr. Ich brauchte etwas Größeres. Und ich nahm sie mir. Eine nach der anderen. Sie waren alle wunderschön, und ihre Knochen knackten so interessant, wenn ich sie ihnen brach. Manchmal weinten sie. Manchmal flehten sie. Die meisten schrien, aber am Ende waren sie alle stumm. Spätestens, wenn ich ihnen das Genick brach.“
Kapuzes Stimme wurde ganz sanft und versonnen. Frank spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Er hatte sich die Hölle immer als einen weiten Raum mit loderndem, rotglühendem Feuer vorgestellt. Doch in Wirklichkeit war sie ein enges, stickiges, lichtloses Loch, randvoll gefüllt mit Finsternis und Wahnsinn. Ein Fahrstuhl, der mitten im Verderben steckengeblieben war.
Kapuze ließ sich nicht beirren. Er musste seine Geschichte zu Ende erzählen.
„Da fiel mir auch The Shining wieder ein“, fuhr er fort, „und ich beschloss, dem Ganzen eine persönliche Note zu verleihen. Redrum.“ Er kicherte. „Redrum. Verstehen Sie? Eine Anspielung, die nur ein Mensch auf der Welt sofort erkennen würde. Das Buch, das ich damals aus diesem Laden mitgenommen habe, das war nicht irgendein King-Roman. Das war eine handsignierte Erstausgabe von The Shining. Mein alter Herr wusste genau, wie viel mir dieses Buch bedeutete. Deshalb hat er es auch all die Jahre aufbewahrt. Und heute wollte ich ihm einen Besuch abstatten, um herauszufinden, ob er mittlerweile gemerkt hat, wer der Redrum-Killer ist.
Und nun erzählen Sie mir, dass Sie Erwin Trabel genau diese Ausgabe abkaufen wollen? Das sollte wohl seine ultimative Bestrafung für mich werden. Das Wertvollste weggeben, das sein Sohn jemals besessen hat. Wie gut, dass ich noch rechtzeitig gekommen bin, nicht wahr?“
Kapuzes irres Grinsen kam näher, als er seine Hände um Franks Kopf legte und ihn zu sich heranzog. Fast liebevoll strich er Frank über das tränennasse Gesicht. Frank wollte seine Arme heben und sich wehren, doch sie versagten ihm den Dienst. Kapuzes Grinsen füllte sein Gesichtsfeld vollständig aus. Es war über ihm, auf ihm, in seinem Kopf, in seiner Seele. Als Franks Genick brach, hatte er nur noch Kraft für einen letzten Gedanken:

Redrum kommt nach Hause.

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