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Interview: Christian Bärmann (bär)

Neil Gaiman

„Kinder lieben es, erschreckt zu werden“

In der englischsprachigen Welt ist Neil Gaiman ein großer Star. Seine Romane sind Bestseller, Verfilmungen wie „Der Sternenwanderer“ oder „Coraline“ Kassenschlager, und für „Das Graveyard-Buch“ regnete es Auszeichnungen – unter anderem als bestes Hörbuch 2008 in den USA, gelesen vom Autor. hörBücher traf Gaiman in Hamburg.

Neil Gaiman freut sich, dass auch der deutsche Sprecher seines Romans „Das Graveyard-Buch“, Jens Wawrzceck, zum hörBücher-Interview erschienen ist. Beide treffen sich zum ersten Mal und werden am Abend in einer Hamburger Kirche aus dem Buch lesen. Schon im Aufzug beginnt ein Gespräch, das im Interviewzimmer fortgesetzt wird ...

Jens Wawrczeck (zu Neil Gaiman): ... und stehen Sie mit Ihren Fans in Kontakt?

Neil Gaiman: Ich verehre meine Fans. Acht Jahre lang habe ich fast täglich auf meiner Website geblogt. In diesem Jahr fahre ich das etwas herunter, weil es sich so langsam wie Arbeit anfühlt, zumal ich täglich rund 200 Leserfragen erhalte. Jetzt twittere ich mehr und blogge weniger, das hat mir gut getan. Ich lasse die Fans kurz und bündig wissen, was ich tue und wo ich sein werde. Aber man sollte nur twittern, wenn man bereit ist, sich auf die Sucht einzulassen. Twitter macht man nicht so nebenbei. Mich begeistert daran, dass die Nachricht sofort lesbar ist. Man zielt mit seinen Gedanken auf Tausende von Leuten, die sich für einen interessieren.

Jens, im Fahrstuhl eben meinten Sie, dass Sie sich beim Lesen von „Das Graveyard-Buch“ nicht sicher waren, ob es schon für ZehnJährige geeignet sei ...

Jens Wawrczeck: Ja, ich finde, dass es für Zehnährige ganz schön heftig ist. Ich fand es auch ziemlich heftig – und ich bin 46 (lacht).

Neil Gaiman: Mir hat neulich ein 35-Jähriger gesagt, dass er seiner siebenjährigen Tochter nicht erlauben würde, „Coraline“ im Kino zu sehen, da er traumatisiert aus dem Film gekommen sei. Aber warum sollte es dem Kind genauso gehen? Vielleicht war der Vater nur traumatisiert, weil er unterdrückte Erinnerungen an seine Kindheit hatte. Kinder sind nicht so. Und was ist mit der Geschichte von „Hänsel und Gretel“? Weil ein Holzfäller und seine Frau ihre Familie nicht ernähren können, setzen sie ihre Kinder im Wald aus, damit diese verhungern und nicht die ganze Familie. Die beiden Kinder treffen eine Kanibalin, die den Jungen einkerkert und fett macht, um ihn zu essen. Das Mädchen wird zur Dienerin, verbrennt die Frau im Ofen und befreit ihren Bruder. Zu Hause stellen sie fest, dass ihre Mutter tot ist und ihr Vater sie wieder willkommen heißt. Wenn man Erwachsenen diese Geschichte mit anderen Namen erzählt, sagen sie, dass man sie nie Kinder erzählen dürfe – aber natürlich lieben Kinder diese Geschichte. Sie ist nett, befriedigend, die richtigen Personen sterben an den richtigen Stellen. Selbst wenn man diese Geschichte mit sieben Jahren gehört hat, wird man wohl kaum behaupten, dass einem dadurch das Leben zerstört worden sein. „Struwwelpeter“ habe ich als Kind geliebt. Oder Grimms Märchen. Kinder lieben es, erschreckt zu werden ...

Wobei gerade die ersten Szenen vom „Graveyard-Buch“, in denen eine Familie kaltblütig ermordet wird, schon sehr furchterregend sind ...

Neil Gaiman: Sicher, aber ich glaube, dass es für Erwachsene viel furchterrregender ist, da sie die Erfahrung aus Horrorfilmen mit einbauen. Sie wissen, was passiert, wenn ein Mann mit einem Messer eine Familie tötet. Zehnjährige werden das nicht so furchterregend finden, weil sie nach anderen Hinweisen suchen. Das Gleiche gilt für Sex. In „Sternenwanderer“ habe ich versucht, eine Sexszene zu schreiben – als Erwachsener weiß man genau, was da passiert. Als Kind weiß man das nicht. Erwachsene sagten mir, das sei Pornografie. Dabei wurden die Worte erst durch die sexuelle Erfahrung des Betrachters zu Pornografie. Ein Kind liest nur die Wörter und weiß, dass sich dort ein Paar auf seltsame Weise knuddelt.

In einem Interview haben Sie mal scherzhaft die Befürchtung geäußert, dass „Das Graveyard-Buch“ in Deutschland nicht veröffentlicht würde, weil es zu verstörend sei ...

Neil Gaiman: Nun, immerhin ist Deutschland das einzige Land auf dem ganzen Planeten, in dem Dave McKeans Illustrationen für „Coraline“ nicht benutzt wurden. Ich glaube, es gibt diese bestimmte deutsche Sorge, Bücher an Erwachsene zu verkaufen, die Kindern gegeben werden – und der Glaube, dass man Kinder schützen müsse. Alle Gespräche, die ich mit meinen Verlegern dazu geführt habe, kommen immer wieder darauf zurück, dass Erwachsene sichergehen wollen, dass das, was sie für Kinder kaufen, sicher ist. Das ist sehr deutsch.

Jens Wawzczeck: Ja, es gab in Deutschland diese Diskussion, dass man Kindern keine Märchen mehr vorlesen sollte, da sie zu grausam sind. Was total albern ist. Gott sei Dank gab es Menschen wie Bruno Bettelheim (Red.: Autor von „Kinder brauchen Märchen“), die gesagt haben, dass Kinder Märchen brauchen und es starke Bilder gibt, an denen sie sich orientieren können. Ich denke, dass wir Deutsche Angst haben, das Falsche zu tun. Aufgrund unserer Geschichte sind wir oft nicht wir selbst. Es ist schwer, selbstbewusst zu sein, wenn man immer den Anspruch hat, das Richtige zu machen.

Neil Gaiman: Dabei handelt „Das Graveyard-Buch“ von Familie, von den richtigen und falschen Entscheidungen beim Heranwachsen – und nicht von Mord und Tod. Es geht um die fundamentale Tragödie, Eltern zu sein, die gleichzeitig auch das Schöne am Elternsein ist: Denn wenn Eltern ihre Sache bei der Erziehung ihrer Kinder gut machen, werden ihre Kinder sie verlassen. Manchmal ist es für Erwachsene ganz leicht, nicht den Kern einer Sache zu verstehen. Wie bei „Hänsel und Gretel“: Da geht es weder um Kanibalismus noch darum, wie man alte Damen umbringt, sondern um Selbstvertrauen, Mut und Familie – und darum, dass Geschwister stärker sind, wenn sie zusammenhalten. Und ich glaube nicht, dass bei Kinderliteratur alle Kinder, die diese Bücher lesen, am Ende genau die gleiche Personen sind wie vorher. Ich habe als Kind Bücher gelesen, die mich verändert haben.

Zum Beispiel?

Neil Gaiman: Etwa die „Narnia“-Bücher, das „Dschungelbuch“ und „Mary Poppins“. Und „Alice in Wunderland“ hat mich darauf gebracht, dass auch Erwachsene dumm sein können und nicht alle Dinge im Leben unbedingt verstanden werden können. Das war eine große Sache für mich als Kind.

Sie haben aus „The Graveyard Book“ auch ein wunderbares Hörbuch gemacht. Fällt Ihnen das Vorlesen so leicht, wie es klingt?

Neil Gaiman: Ich liebe es vorzulesen. Schon als Kind habe ich gerne meinen Geschwistern vorgelesen, später meinen eigenen Kindern. Ich hoffe, dass meine Freude am Vorlesen und generell am Lesen bei meinen Hörbüchern durchscheint. Eine Sache liebe ich besonders daran, Autor und der Sprecher zu sein: Ab und zu, wenn der Autor mal völlig daneben gegriffen hat, kann ich es wieder geradebiegen.

Jens Wawrzeck: Passiert das?

Neil Gaiman: Ja, an manchen Stellen hat der Autor einen unglaublichen Zungenbrecher eingebaut, einen kleinen Satz, der auf der Seite gut aussieht, aber unmöglich auszusprechen ist. Dann formuliere ich den Satz um – nicht nur für mich, sondern für alle Eltern, die dieses Buch ihren Kindern vorlesen.

Ihre Autorenlesung ist so stimmig, als hätten nur Sie den Roman auf Englisch einlesen können. Sehen Sie das auch so?

Neil Gaiman: Ich habe das große Glück, dass mein Verleger mich meine Bücher selbst einlesen lässt, wenn ich es möchte. „Anansi Boys“ wollte ich beispielsweise nicht machen, da ich zwar gut bin, aber nicht so gut, um vier kleine jamaikanische Frauen sprechen zu können. Auch nicht „American Gods“, da es voller amerikanischer Akzente ist. „The Graveyard Book“ entspricht genau meinen Fähigkeiten. Ich weiß, wie jeder im Buch klingt, und ich weiß, wie das Buch klingt. Es ist nicht so, als würde ich anderen Sprechern nicht trauen, aber manchmal wünschte ich mir, ich könnte mit ihnen die Geschichte durchgehen.

Jens Wawrczeck: Aber meinen Sie nicht, dass man einem Sprecher gewisse Freiheiten bei der Interpretation lassen sollte?

Neil Gaiman: Absolut, aber manchmal kann es eben helfen, wenn ein Autor dem Sprecher Tipps gibt. Kürzlich hat beispielsweise der wunderbare Sprecher Martin Jarvis das Buch „Good Omens“ aufgenommen, das ich gemeinsam mit Terry Pratchett geschrieben habe. Bevor er ins Studio gegangen ist, habe ich 40 Minuten mit ihm gesprochen. Das war großartig – nicht, weil ich ihm gesagt hätte, was er zu tun hat, sondern weil er mir sagte, wie er sich bestimmte Figuren vorstellt. Er fragte, was mir durch den Kopf gegangen sei, als ich sie geschrieben habe, und wie ich mir wünschte, dass sie klingen.

Jens, würde Ihnen so eine Hilfestellung helfen?

Jens Wawrczeck: Das fände ich großartig, obwohl ich glaube, dass Autor und Interpret immer einen Kompromiss finden sollten. Beim „Graveyard-Buch“ bin ich beim Gestalten der Figuren meiner eigenen Vorstellungskraft gefolgt. Und hatte mit Regisseur Kai Lüftner einen sehr sensiblen Zuhörer. Manchmal vermisse ich bei Aufnahmen angesichts der Kürze der Produktionszeit aber durchaus die tiefere Diskussion zum Text.
Neil Gaiman: Als Autor ist man ja schon zufrieden, wenn der Sprecher das Buch zumindest einmal komplett gelesen hat, bevor er ins Studio geht. Oft machen Kleinigkeiten den Unterschied. Von „Coraline“ gibt es zwei englischsprachige Hörbücher eine Version von mir und eine von der grandiosen Dawn French. Sie hat das Buch erstaunlich gut aufgenommen. Wenn sie es allerdings vorher einmal komplett gelesen hatte, wäre ihr aufgefallen, dass der verrückte alte Mann im nächsten Stockwerk Rumäne ist – sie hat es offenkundig erst gemerkt, als es zu spät war. Daher glaube ich, dass es wirklich nützlich wäre, wenn Sprecher das Buch komplett lesen und zumindest fünf Minuten mit dem Autor sprechen.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass Hörbücher einen Zauber wie kein anderes Medium haben. Wie haben Sie das gemeint?

Neil Gaiman: Es geht um den Zauber, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen. Ein Wort nach dem anderen. Wenn ein Hörbuch erst mal begonnen hat und man bereit ist, sich darauf einzulassen, begibt man sich auf eine Art Reise, die andere Menschen steuern. Als Hörer folgt man der Geschwindigkeit des Buches, nicht der eigenen. Jedes Wort wird einem vorgegeben, man kann nicht quer lesen, wenn eine Passage mal zu ausführlich ist. So hat man eine ganz andere Erfahrung mit einem Hörbuch.

Neil Gaiman (1960 geboren in Portchester, England) wurde durch seine Comic-Serie „Der Sandmann“ bekannt. Mittlerweile wird der Bestsellerautor im „Dictionary of Literary Biography“ als einer der wichtigsten lebenden Autoren der Postmoderne aufgeführt. Mit „American Gods“ (Heyne) und „Das Graveyard- Buch“ (Arena) landete er auch in Deutschland Bestseller. Seine Romane „Der Sternenwanderer“ und „Coraline“ wurden nach seinen Drehbüchern verfi lmt. Gaiman lebt in Minneapolis (USA) und hält seine Fans auf seiner Website sowie per Twitter (neilhimself) auf dem Laufenden.


 

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